Pressebericht – 2. Regionalpolitischer Dialog „Görzhausen IV und die Folgen für die Region“ – 13. November 2024, Bürgerhaus Michelbach
Marburg-Michelbach
Rund 70 interessierte Bürgerinnen und Bürger aus Michelbach, Dagobertshausen, Lahntal und der Region folgten der Einladung der Bürgerinitiative Kein Görzhausen IV – Stopp den Flächen-verbrauch! e.V. am 13.11.2024 ins Bürgerhaus Michelbach. Konkreter Anlass war die anstehende Entscheidung der Regionalversammlung Mittelhessen (RVM) über die Ausweisung des Gebietes zwischen dem ‚Marsgelände‘ und Dagobertshausen als Potentialfläche für ein künftiges „Görzhausen IV“ im neuen Regionalplan. Hierzu liegt ein Verkleinerungsantrag der Fraktion Bündnis 90 / Grüne / Linke vor. Die Regionalplanungsstelle Gießen schlägt ebenfalls eine Reduzierungsmöglichkeit von 8 ha vor, z.B. keine Rodung der Waldflächen und Erhalt der Kompensationsfläche/Biotop. Theoretisch kann die Fläche auch noch gestrichen werden.
„Es gibt gewichtige Gründe miteinander zu reden, bevor es zu spät ist. Sich offen den Fragen und Einwänden von Bürger:innen stellen und ihre Argumente hören – das ist gelebte Demokratie. Die nachhaltige Entwicklung in eine ökonomisch wie ökologisch verantwortbare Zukunft kann nicht mehr nach der Methode ‚Immer mehr vom selben‘ erreicht werden. Für diesen wirklichen Fortschritt tritt unsere BI ein. Sie versteht sich nicht als Konkurrenz zu gewählten politischen Gremien wie z. B. Ortsbeiräten, sondern als eine freie Stimme aus der Bürgerschaft in der Sorge um die Zukunft unserer Ortschaften“, führte Dr. Wilhelm Richebächer, Vorsitzender der BI und Moderator des Dialogs, bei seiner Begrüßung aus.
Trotz krankheitsbedingter Absagen konnten als Podiumsgäste neben Dr. Anne Archinal (Vorsitzende der AG „Rettet den Burgwald“), drei Kommunal- und Regionalpolitiker/-innen bzw. Mitglieder der RVM begrüßt werden: Dr. Thomas Spies (SPD, OB Stadt Marburg und Mitglied des Haupt- und Planungsausschusses/HUP RVM), Werner Waßmuth (CDU, Landkreis Marburg-Biedenkopf, Vorsitzender HUP RVM), Carsten Laukel (Bürgerliste, Bürgermeister Gemeinde Lahntal). Die von Uwe Volz (B90/Die Grünen, Stadtverordneter Marburg und stellvertretender Vorsitzender der RVM/Mitglied des Ausschusses für Energie, Umwelt, ländlichen Raum und Infrastruktur) zugeleitete schriftliche Beantwortung einer Frage zur Wegnahme des Status „Vorbehaltsgebiet Klima“ für Michelbach wurde vom Moderator verlesen.
Aus dem Medienbereich war Regionalreporterin Anna Spieß vom Hessischen Rundfunk vertreten.
Genug ist genug – STOPP den Flächenverbrauch!
Vertreterinnen der veranstaltenden Bürgerinitiative und der Stadtteilinitiative Leben und Wohnen in Dagobertshausen führten in die Thematik ein. Jutta Richebächer skizzierte die gravierenden Folgen einer erneuten Erweiterung über Görzhausen III hinaus im Hinblick auf Flächenverbrauch, Verluste für die Landwirtschaft, Schwächung der Luft-Zirkulationsverbindung zur Lahn durch Verriegelung der Frischluftschneise, gigantische Wärmeemissionen, Wasserverbrauch und Verkehrszunahme für die Region. „Eine derart geballte Belastung mit Industrie und Gewerbe-Ansiedlungen – nämlich 66% der gesamten Neuausweisung in Michelbach und Dagobertshausen gegenüber 34% im übrigen Stadtgebiet – ist nicht verantwortbar“, zumal Stromtrasse (Rhein-Main-Link), großflächige Photovoltaik-Freiflächenanlagen und rd. 7 Windräder hinzukommen würden. Ute Göbel-Lehnert veranschaulichte die nach Sicht vieler Dagobertshäuser Bürger:innen unverantwortliche Zukunftslage ihres „Dorfes in der Zange“ zwischen Industrie und Gewerbe, wenn nach Planumsetzung von Görzhausen IV und der geplanten Erweiterung der Reitsportanlage künftig 44 ha gewerblicher und industrieller Landnutzung in einem der kleinsten Stadtteile Marburgs von nur 360 Einwohner:innen rund 17 ha Siedlungsraum gegenüberstünden. „Die fortschreitende Expansion der hiesigen Freizeitgewerbebetriebe und eine Ansiedlung von Görzhausen IV sind völlig gebietsunverträglich. Ein städtebauliches Gesamtkonzept ist seit vielen Jahren überfällig“, so Göbel-Lehnert.
Politiker:innen, BI-Vertreter:innen und Bürger:innen im „Schlagabtausch“
OB Dr. Spies bekundete sein Erstaunen und Freude über das große Interesse der BI wie aller Anwesenden am Regionalplan Mittelhessen: „Das hat es in früheren Zeiten so nicht gegeben.“ Nach seiner Ansicht sei eine Verkleinerung der angemeldeten „Potentialfläche“ von 24 ha nicht im Interesse von Dagobertshausen. Je mehr Potentialfläche für Görzhausen IV ausgewiesen würde, desto mehr Ausgleichsfläche (25% der Potentialfläche) müsste am Ort geschaffen werden. Letzteres ließe sich doch so gestalten, dass von dem benachbarten Gewerbegebiet die Wohnqualität in Dagobertshausen möglichst wenig beeinträchtigt würde. Zur Frage nach der Füllung von Leerständen und der Verdichtung bereits vorhandener Standortgebiete (wie von der Stadt für GH I und II und das Hauptwerk Z / Marbach angekündigt) bekräftigte Spies den Grundsatz des Magistrats, dass immer Verdichtung vor Neuversiegelung komme. Letztere sei jedoch um der wirtschaftlichen Entwicklung willen auch nicht zu vermeiden. Im Übrigen diene die Ausweisung von ‚Görzhausen IV‘ lediglich dazu, den Pharma-Unternehmen zu signalisieren, dass am Standort noch Erweiterungsmöglichkeiten existieren würden.
Der Annahme, dass die Ausweisung von möglichst viel Potentialfläche im Interesse der angrenzenden Bevölkerung sei, wurde heftig widersprochen, zudem der Bedarf unklar bzw. nicht belegt sei. Außerdem setze sich nach dieser Logik der ohnehin schon „galoppierende“ Flächen- und Naturverbrauch fort. Das bundesweite Ziel der Senkung des Nettoflächenverbrauchs auf „Netto-Null“ bis 2050 werde damit immer unwahrscheinlicher. Zudem zeige die Erfahrung, dass einmal ausgewiesene Gewerbeflächen früher oder später auch entsprechend genutzt würden. So plane die Stadtentwicklungsgesellschaft (SEG) für die von ihr bereits erworbene Potentialfläche nicht nur den zeitnahen Aufbau von Photovoltaikanlagen, sondern habe bereits jetzt Beschlüsse zur Entschädigung von Photovoltaik-Investoren für den Fall des vorzeitigen Abrisses der Anlagen gefasst. Weshalb dies, wenn nicht zwecks einer zügigen Zuführung des Geländes an eine pharmaindustrielle Nutzung?
Stadt Marburg und RP Gießen schieben die Verantwortung hin und her
Werner Waßmuth (CDU) verwies auf das Landesplanungsgesetz, das eingehalten werden müsse. Die Regionalversammlung trage keine Verantwortung für den Gesamtvorgang, sondern mache lediglich eine „Angebotsplanung“. Die Letztentscheidung treffe die Kommune nach Abwägung unterschiedlicher Interessen. Er betonte, dass mit einem möglichen Beschluss der RVM in der öffentlichen Sitzung am 02.12.2024 (Kulturzentrum Buseck) zu Görzhausen IV zunächst einmal „nur“ die Voraussetzung für weitere Planungsschritte geschaffen würde. Die Diskussion um Qualitätskriterien und Ausschlusskriterien beginne erst im Zuge der Bauleitplanung.
Dr. Anne Archinal verwies auf die rasant zunehmende klimapolitische Problemlage, die eine verantwortungsvoll handelnde Regionalversammlung bei ihren Entscheidungen zu berücksichtigen habe.
Ebenso vehement widersprachen Bürger:innen: „Eine verantwortliche und qualitativ bewertende Aufgabenwahrnehmung seitens der Regionalversammlung wird dadurch verweigert.“ Eine Vertreterin der BI wies darauf hin, dass der Magistrat im Zusammenhang mit Görzhausen IV genau umgekehrt argumentiert habe, wonach die Regionalplanungsstelle des RP Gießen die aktive Kraft sei. So erodierte, an diesem Abend deutlich spürbar, das gegenseitige Hin- und Herschieben von Verantwortung einmal mehr das Vertrauen in die politischen Handlungsakteure. Das Unverständnis der Bürger:innen wurde nicht geringer nach dem Hinweis des Moderators auf das presseöffentlich ausgetragene Gegeneinander-Ausspielen von Moischter Gewerbeflächen und ‚Dagobertshausen‘/ ‘Görzhausen IV‘ ohne sachlogisch einleuchtende Begründung durch die politisch Verantwortlichen.
„Marburg hat ein ausgeprägtes Soziales Angebot, das finanziert werden muss. Es gehen u.a.12% der Kapitalertragssteuer in die kommunale Kasse“, versuchte Werner Waßmuth das Planvorhaben zu begründen. Auch bestünde die Gefahr, dass die weltweit agierenden Konzerne weggehen könnten. Inwieweit solche Konzerne sich eher aus Gründen wie dem künftigen wirtschaftlichen Protektionismus der USA als unzuverlässige Größe erweisen könnten, wurde von der BI zu denken gegeben.
Dr. Archinal führte aus: „Wir sind Klimaleugner, wenn wir weiter so machen wie bisher; das betrifft auch Regionalplaner. Wir handeln fortwährend in unserem Wirtschaften gegen die Naturgesetze. Ein Grund dafür sei auch unsere unsachgemäße Vorstellung von Böden. Diese umfassten nicht nur eine Erdoberfläche mit Bewuchs, Bewaldung oder Tieren darauf. Vielmehr verberge jeder Quadratmeter ein Hundertfältiges der an der Oberfläche sichtbaren Lebewesen und Nährstoffe. Diese seien in keiner Weise „umzusiedeln“, um den Weg für neues Bauen schnell frei zu machen.
Bürgermeister Laukel erklärte zu den infrastrukturellen Erfordernissen im Lahntal, durch welches auf der B 62 nach Abschluss der Errichtung von Görzhausen III voraussichtlich fast 10.000 statt heute 6.700 PKW/Tag fahren werden: Zusammen mit der Stadt Marburg würde man an Lösungen des Verkehrsproblems (vor allem durch eine neue zirkuläre Stadtbusführung) arbeiten. Zu den B-Plänen von Görzhausen gäbe es seitens des Lahntals kritische Stellungnahmen hinsichtlich Verkehr, Licht und Luftströmungen. Ein Parkhaus in Sterzhausen nach dem Park & Ride- Modell werde dort abgelehnt. Hinsichtlich einer neuen Fahrradwegverbindung von Marburg bis zum Standort Görzhausen-Standort werde auch eine „Nordumfahrung“ von Wehrda um den Weißem Stein bis nach Görzhausen erwogen.
Viele offene Fragen
Durch das sachkundige Publikum wurden weitere ungelöste Fragen aufgeworfen. Seitens der im Laufe des Abends anwesenden Vertreter der Regionalversammlung kam überraschend häufig der Verweis auf die eigene Nichtzuständigkeit. Die gegebenen Antworten blieben oft strittig. So blieb am Ende neben einem herzlichen Dank an alle Beteiligten der einhellige Appell an die Verantwortlichen der Regionalversammlung, einer Erweiterung der Gewerbeflächen um Görzhausen IV nicht zuzustimmen.
Ute Göbel-Lehnert
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